Warum Baseball in Deutschland mehr Aufmerksamkeit verdient

Baseball hat seit über 150 Jahren seine Regeln kaum verändert und ist doch so modern, dass er täglich zehntausende Amerikaner in die Stadien zieht? Doch so fasziniert die Menschen in Übersee auch sein mögen, in Deutschland hat kaum jemand diesen Sport auf dem Radar – oh, wie schade.

Als Baseballfan bin ich in Deutschland ein Exot. Und das ist für mich ein Problem: Mir fehlt der fachliche Austausch mit Gleichgesinnten. Mit vielen Leuten kann ich stundenlang über Fußball philosophieren – jeder kennt Spieler und die grundlegenden Neuigkeiten. Über das unbegreifliche Spiel mit der Holzkeule jedoch ist ein Fachgeplänkel schier unmöglich.

Selbstverständlich ist Aufmerksamkeit ein knappes Gut, doch eine kleinen Teil vom Kuchen hätte Baseball verdient. Es geht mir dabei weniger um Sendezeit und Platz in der Presse als vielmehr um das Verständnis über die Grundlagen. Denn wer nichts weiß, kann nicht wissen, was er versäumt. So wie bei den vielen anderen Sportarten, die mein Leben begleiten.

Hintergrund: Meine Begeisterung für Baseball entstand durch ein atemberaubendes Live-Erlebnis: Am 23. August 2014 besuchte ich ein Spiel der MLB (Major League Baseball) zwischen den Los Angeles Dodgers und den New York Mets. Im Stadion waren 51.215 Zuschauer, die Begegnung dauerte 2:51 Stunden und endete mit einem 7­:4-Sieg für das Team von der Westküste. Starting Pitcher waren Zack Greinke und Jacob deGrom.

Dodger Stadium bei Sonnenuntergang
Los Angeles Dodgers vs. New York Mets. August 2014.

The Ball Game: Ein einfaches und doch komplexes Spiel

Amerikaner sagen „the ball game“, wenn sie von Baseball sprechen. Das sagt viel über den Stellenwert und die lange Tradition. Die nordamerikanische MLB ist die mit Abstand stärkste Liga der Welt, gemessen an Umsätzen und Aufmerksamkeit. In ihr spielen 30 Mannschaften um die Meisterschaft.

Rekord: Im Baseball werden enorme Gehälter gezahlt: Im März 2019 unterschrieb Mike Trout von den Los Angeles Angels einen 12-Jahres-Vertrag über 426 Millionen Dollar (mehr als 35 Millionen pro Saison). Das ist, bezogen auf die Gesamtsumme, der größte jemals ausgehandelte Kontrakt eines Profisportlers.

Populär ist Baseball außerdem in Mittelamerika und Japan, viele Spieler kommen aus diesen Ländern in die USA. In Europa findet Baseball quasi nicht statt, auch in Deutschland ist dieser ur-amerikanische Sport eine Nische. Kaum jemand dürfte hierzulande neben den New York Yankees (trotz vieler Mützenträger) oder den Boston Red Sox noch ein weiteres Team benennen können. Am bekanntesten ist sicherlich noch das Spielgerät – leider häufig im Zusammenhang mit (rechter) Gewalt.

Doch worum geht es nun beim Baseball? Es geht ums Werfen und Fangen, ums Schlagen und Laufen. Beide Mannschaften schicken neun Spieler ins Spiel. In den neun Spielabschnitten (Innings) hat jedes Team jeweils solange Schlagrecht, bis drei Spieler „aus“ sind. Wer am Ende mehr Runs erzielt hat, gewinnt das Spiel. Hinter diesem einfachen Prinzip steckt eines der komplexesten Regelwerk in der Welt des Sports.

Ein Fest für Zahlenmenschen: Baseball ist Statistik pur

Statistiken spielen in allen Sportarten eine Rolle, im Baseball jedoch ist die Bedeutung herausragend. Das Spiel lebt von Summen und Quotienten, um die der Zuschauer nicht herumkommt. Zahlenmuffel werden hier verzweifeln.

Voll Ränge im Dodger Stadium
Volle Ränge im Dodger Stadium auf der Left-Field-Seite.

Der Volksmund sagt, man könne aus allen Dingen eine Wissenschaft machen. Und so gibt man sich im Baseball-Mutterland mit einfachen Statistiken nicht zufrieden: Seit dem Jahr 1971 existiert eine Vereinigung, die Baseball wissenschaftlich erforscht – die Fachrichtung heißt Sabermetrics. Auf der SABR-Plattform (Society for American Baseball Research) werden Studien veröffentlicht, die keine Frage unbeantwortet lässt. Im Kern geht es darum, Baseball mit Hilfe statistischer Daten zu verstehen. So liefert die Forschung immer neue Statistiken, die die Performance von Spielern besser abbilden.

Historie: Die Regeln im modernen Baseball sind seit über 100 Jahren unverändert. Hierdurch können Spieler und Mannschaften über Epochen hinweg gut miteinander verglichen werden. Der Blick in die Geschichte ist für viele Baseballfans ein absolutes Muss.

Die vielen Zahlen entstehen wie von selbst: Jede Mannschaft bestreitet in der regulären Saison 162 Spiele innerhalb von sieben Monaten. In diesem Zeitraum wird also an nahezu jedem Tag gespielt, freie Tage sind eine Ausnahme. Die Teams tragen dabei kleine Serien von zumeist drei Spielen aus – manchmal auch zwei oder vier. Nach wetterbedingten Absagen kann es aufgrund des engen Kalenders sogar vorkommen, dass am Folgetag zwei Spiele hintereinander ausgetragen werden.

Corona-Krise: Durch das Coronavirus musste die Saison 2020 später beginnen. Da sämtliche Auswärtsreisen schon Monate im Voraus stundengenau terminiert sind und die Pandemie nach noch strengeren Regeln verlangte, war dies eine logistische Mammutaufgabe. Letztlich hat es aber doch geklappt: 60 statt 162 Spiele pro Team in der Regular Season, teilweise verkürzte Spiele und Doubleheader (zwei Spiele an einem Tag mit jeweils nur 7 Innings), erweiterte Playoffs. Trotz zahlreicher positiver Corona-Tests vor allem in der Startphase (eine Bubble wie in der NBA oder NHL wurde nicht eingerichtet), wurden bis auf zwei Partien alle Spiele ausgetragen. Und am Ende gewann mein Lieblingsteam nach 32 Jahren endlich wieder die World Series – was für eine Saison!

High Noon: Zwei Männer im Duell

Zentral ist das Duell zwischen Werfer (Pitcher) und Schlagmann. Dieses sogenannte At-bat ist eine wiederkehrende Spieleinheit, von der es rund 60 bis 80 pro Partie gibt. Die anspruchsvollen Würfe belasten den Körper des Werfers extrem: Entweder werden die Bälle extrem hart geworfen oder mit einem unglaublichen Effet versehen, um möglichst krumme Flugbahnen zu erzwingen.

Beim Pitch wirken enorme Kräfte auf den Körper des Spielers.
© Bild von Keith Johnston auf Pixabay

Tracking: Im Jahr 2015 führte die MLB Statcast ein, ein modernes Datenerfassungssystem. Die schnellsten jemals gemessene Pitches wurden mit 105 Meilen (169 Kilometer pro Stunde) abgefeuert.

Langwierige Verletzungen treten fast zwangsläufig auf. Der Starting Pitcher, der das Spiel beginnt und etwa 100 Bälle wirft, benötigt im Anschluss drei bis vier Tage Ruhe. Schlagmänner spielen dagegen jeden Tag. Gute Starter kommen auf über 800 gespielte Innings und über 3.000 Würfe pro Saison. Ein Schlagmann kommt während einer Spielzeit auf über 600 Duelle gegen unzählige Werfer und sieht dabei gut und gerne 2.500 Bälle auf sich zufliegen.

Übersetzt für einen Fußballfan: Man stelle sich vor, der Topstürmer würde zu 600 Elfmetern pro Saison antreten. Aus den unendlich vielen Einzelereignissen, die wiederum unterschiedliche Ausgänge nehmen können (Ball im Spiel; Schlagmann aus dem Spiel usw.), sind faszinierende Kennzahlen ableitbar.

Langsamkeit: Segen und möglicher Fluch

Beim Fußball, Eishockey oder Basketball holt man sich das Bier und die Bratwurst in der Pause. Beim Baseball braucht es für die kulinarische Versorgung keine Unterbrechung. In einer Welt, in der sich alles um Geschwindigkeit dreht, ist Baseball damit eine angenehme Abwechslung. Die Langsamkeit ist Teil der Spielkultur und bietet Raum, das schöne Wetter zu genießen oder mit dem Sitznachbarn zu plaudern. Wenn der Ball getroffen wird, kann man immer noch in Richtung Feld gucken.

In den letzten Jahren wurden verstärkt Maßnahmen diskutiert, die zu einer Beschleunigung des Spiels beitragen können. Wie beim Tennis mittlerweile üblich, könnte etwa ein Countdown die Zeit zwischen den Würfen begrenzen. Doch selbst dann bliebe die Länge der Spiele in Verbindung mit der großen Anzahl an Matches ein potenzielles Problem. Bei einer durchschnittlichen Spieldauer von drei Stunden kommen in einer Woche schnell 20 Stunden und mehr zusammen. Dafür braucht man entweder viel Zeit oder muss klare Prioritäten setzen.

Ewigkeit: Das längste Spiel in der MLB-Finalserie, der World Series, fand im Oktober 2018 statt. Nach 18 gespielten Innings und einer Spielzeit von 7:20 Stunden triumphierten die Los Angeles Dodgers über die Boston Red Sox mit 3:2 Runs.

Spielszene im Dodger Stadium
Spielszene zwischen den Los Angeles Dodgers und New York Mets.

Jammerschade: Skandal sorgt für erhöhte Aufmerksamkeit

Ausgerechnet illegale Praktiken sorgten im Januar 2020 für eine erhöhte Schlagzahl in der Berichterstattung. Was war passiert? Die Houston Astros haben über Jahre bei Heimspielen den gegnerischen Catcher mit einer Kamera ausgespäht. Über Klopfzeichen wurden Informationen von der Bank an den Schlagmann übermittelt. Dieser konnte nun vor dem Wurf wissen, ob ein schneller oder ein angeschnittener Ball kommen würde – ein unglaublicher Vorteil. So feierte das Team aus Texas in der betreffenden Saison 2017 dann auch ihre bislang einzige Meisterschaft.

Die Strafen fielen nach Ansicht der Betroffenen und der Community zu niedrig aus. Trainer und Manager wurden gesperrt, die Organisation verliert ihre jeweils ersten beiden Draft Picks für 2020 und 2021. Selbst wenn der Zeitraum des Vergehens und die Anzahl der beteiligten Spieler nicht nachprüfbar sind, ist die Glaubwürdigkeit des Sports empfindlich getroffen. Dass große Medien wie der Spiegel, die FAZ und die Süddeutsche Zeitung aus diesem Anlass für kurze Zeit über den Sport berichten, schadet dem Ansehen von Baseball in Deutschland. Es bleibt zu hoffen, dass der Skandal bald verhallt.

Hoffnungsträger Max Kepler: Pionier für Deutschland und Europa

Max Keppler aus Berlin ist die Hoffnung für alle Baseballfans in Deutschland. Der Schlagmann von den Minnesota Twins hat in der Saison 2019 einen Rekord für europäische Spieler aufgestellt. Und das in der prestigeträchtigen Kategorie Homeruns: 36 Mal schlug er den Ball aus dem Stadion (Ligabestwert 53). Nach seiner vierten kompletten Spielzeit beim Team aus Minneapolis gehört er zu den absoluten Leistungsträgern. Als erster Schlagmann im Line-up spielt er zumeist im Right Field, häufig auch im Center Field.

Auch die Verantwortlichen der MLB setzen auf den ehemaligen Bundesligaspieler, der von 2008 bis 2011 für Regensburg spielte. In der Off-Season 2019/20 organisierte die Europaabteilung der Liga eine Tour durch Keplers Heimat auf dem alten Kontinent. Denn die Vermarktung von Baseball in Deutschland und in ganz Europa lässt auf neue Umsätze hoffen, die aufgrund der Marktsättigung in Nordamerika für Wachstum dringend nötig sind.

Hinweis: In unregelmäßigen Abständen zeigt Sport1 MLB-Spiele im Free-TV. Der Sender bietet außerdem Berichte und Interviews online – etwa ein Gespräch mit Max Kepler (derzeit einziger deutscher Stammspieler in der MLB). Im Pay-TV bietet DAZN ein Spiel pro Tag (14,99 Euro im Monatsabo). Eine hervorragende App ist „MLB At Bat“ (2,19 Euro/Monat).

Letztlich hängt alles an Personen. Welche Bedeutung ein nationaler Star haben kann, hat Dirk Nowitzki über 20 Jahre eindrucksvoll bewiesen. Durch seine Leistungen berichteten große deutsche Medien von unbedeutenden Spielen der Regular Season. Es passt hervorragend, dass nach dem Karriereende von Dirkules nun ein neues Gesicht die Bühne betritt – Max Kepler ist Jahrgang 1993.

JahrSp.At BatsHRAvg.
2015370.143
201611339617.235
201714751119.243
201815653220.224
201913452436.252
2020*481719.228
202112142619.211
MLB-Karriere-Statistik von Max Kepler (ausgewählte Daten, alle Saisons bei den Minnesota Twins) – Anmerkungen: *: Verkürzte Saison mit 60 Spielen; Avg.: etwa „Schlagdurchschnitt“(Avg. = Hits / At Bats)

Noch jünger ist allerdings Leon Draisaitl, der 2020 als erster Deutscher Eishockeyspieler als wertvollster Spieler der NHL ausgezeichnet wurde (und auch in 2021 und 2022 zu den Top Scorern der Liga gehört). Draisaitl hätte das Potenzial, Dirkules‘ Platz in Sachen Aufmerksamkeit zu besetzen.

Es bleibt zu hoffen, dass beide Sportler auch in den nächsten Jahren gute Leistungen abliefern werden. Kepler startete ausgezeichnet in die Corona-Saison 2020: Mit einem Homerun beim ersten Pitch. In 2021 belegte er in den Kategorien Runs und Homeruns jeweils den vierten Platz im Team.

Letztes Update: August 2022