Ein Weg zu mehr Verkehrsmoral

Niemand mag Moralapostel – schon klar. Doch es braucht diesen Beitrag, um mehr Ordnung auf die Straße zu bringen. Das Verhalten vieler Autofahrer gehört kalibriert. Auch bei denen, die sich (schon) für gute Fahrer halten.

Neulich habe ich mein Auto auf meinem Grundstück gewendet. Dabei habe ich den Blinker gesetzt – wie spießig kann man sein? Auf der folgenden Fahrt habe ich mir, pathetisch ausgedrückt, etwas gewünscht: Moral.

Unter Moral versteht man die Gesamtheit geltender Werte, Normen und Tugenden. Sie beschreibt das Handeln nach den Regeln des guten Umgangs. Ob sich die Moral im Straßenverkehr verschlechtert oder verbessert hat, sei dahingestellt: Für meinen Geschmack ist sie zu wenig ausgeprägt.

Liebe Mitpendler, wo ist eure Verkehrsmoral geblieben?

Ich bin Pendler und fahre täglich mit dem Pkw zur Arbeit. Halte ich mich an die erlaubte Geschwindigkeit (was ich konsequent tue), brauche ich für die 60 Kilometer rund 55 Minuten. Das mache ich nun schon seit zwei Jahren so und doch kann ich mich an eine Sache nicht gewöhnen: Ich werde pausenlos überholt, selbst wenn ich mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit unterwegs bin. Da frage ich mich: Ist das eigentlich normal?

Mittlerweile kenne ich meine Mitpendler, viele überholen mich jeden Tag. Ich vermute bei ihnen ein generelles Problem: Sie sind nicht fähig, sich zu organisieren. Denn wenn ich weiß, dass ich unter Achtung der Regeln eine Stunde für die Fahrt benötige, fahre ich eine Stunde vor dem Termin los – und brauche dann auch nicht zu rasen.

Untersuchung: Der ADAC hat im Jahr 2011 zum Thema Überholen auf Landstraßen ein lesenswertes Fachdossier veröffentlicht. Darin wird untersucht, wie groß der Zeitvorteil durch Überholmanöver ist (Spoiler-Alarm: unbedeutend) und welche psychologischen Faktoren eine Rolle spielen.

Im Verkehr ticken die Uhren anders

Rund um die Themen Achtsamkeit und Entschleunigung hat sich eine eigenständige Beraterindustrie etabliert, die – gemessen an ihren erzielten Umsätzen – regen Zuspruch erfährt. Nur hinterm Steuer scheinen die dort für das Leben so wertvollen, hart erarbeiteten Vorsätze schnell vergessen. Die Regeln des Anstands sind häufig gar ins Gegenteil verkehrt.

Mit einem PS-starken Fahrzeug hinter einem Kleinwagen herzufahren, scheint für viele unmöglich zu sein. Nach dem Motto: Wenn ich schon so viel Geld für meinen Wagen bezahlt habe, möchte ich bitte auch zügiger ans Ziel kommen als der übervorsichtige Trottel, der da vor mir herschleicht. Wer mit dem Überholen doch mal kurz warten muss, gibt anschließend noch mehr Gas.

Der Wunsch nach schnellem Fortkommen wird häufig mit fehlender Zeit begründet. Es ist paradox: Menschen haben keine Zeit – und schauen abends drei Stunden Netflix. Was – um alles in der Welt – ist eigentlich so schlimm daran, in einem klimatisierten Fahrzeug zu sitzen und dabei wahlweise Musik oder Podcasts zu hören?

Verschobene Wahrnehmung und verkehrte Welt

Letztendlich lautet die Fragestellung, wie oder womit ich meine Zeit verbringen möchte. Zwar leuchtet es mir ein, dass das Sitzen auf der heimischen Couch angenehmer ist als konzentriertes Autofahren. Jedoch geht das Übertreten von Regeln und Vorschriften immer auf Kosten anderer. Wenn dann auch noch mit einem Augenzwinkern oder Schulterzucken behauptet wird, man könne halt nicht langsam fahren, werde ich fuchsig. Denn bei Fehlern geht es schnell ans Eingemachte. Auf ihre Verantwortungslosigkeit angesprochen, wechseln die Sünder oft in den Angriffsmodus oder die Opferrolle – was alles nur noch schlimmer macht. Sporadisch durchgeführte Geschwindigkeitskontrollen werden dann wahlweise als Abzocke oder Schikane bezeichnet.

Dabei mangelt es an drei grundlegenden Dingen:

  • Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen: Wenn ich zu schnell fahre, muss ich dafür im Zweifel bezahlen.
  • Fachleuten Vertrauen entgegenbringen: Wenn der Experte die Geschwindigkeit begrenzt, wird dafür einen sachlichen Grund geben.
  • Demut zeigen: Wenn ich mit anderen den Straßenraum teile, muss ich nicht zu jeder Zeit schneller ans Ziel gelangen als alle anderen.

Die lange Liste der täglichen Vergehen

Auf zwei weitverbreitete Verstöße möchte ich noch kurz eingehen: Das Nichthalten am Stoppschild und das Nichtsetzen des Blinkers. Oft stehe ich am Stoppschild und kann förmlich spüren, dass der Kollege hinter mir genervt ist, wenn ich tatsächlich anhalte. Das löst dann wiederum bei mir negative Emotionen aus. Dabei ist es ziemlich leichtsinnig, nicht am Stoppschild zu halten. Und viele überschätzen ihre kognitiven Fähigkeiten an unübersichtlichen Stellen. Durch ihre Raserei merken sie häufig gar nicht, dass sie andere gefährden.

Nicht weniger sittenwidrig ist es, beim Abbiegevorgang den Blinker nicht zu setzen – ein Benehmen, das mangelnde Empathie vermuten lässt. Da ich für gewöhnlich weiß, in welche Richtung ich möchte, blinke ich nur für andere. Durch die Nutzung der Richtungsanzeige gebe ich Informationen, die Unfälle vermeiden helfen. Und dabei muss man fürs Blinken – Achtung: Wortspiel – noch nicht mal einen Finger krumm machen. Die Liste ließe sich fortführen (Sicherheitsabstand nicht einhalten, Parken in zweiter Reihe, Vorfahrt missachten, unnötiges Hupen, vergessenes Lichtanschalten und so weiter).

Corona-Krise: Die Covid-19-Pandemie sorgt auf den Straßen für spürbar mehr Freiraum. In Einzelfällen konnte ich eine gewisse Entspannung und eine höhere Rücksichtnahme feststellen. Es bleibt zu hoffen, dass das Virus die Verkehrswelt langfristig positiv verändert.

Verkehrsmoral und das Wesen einer guten Autofahrt

Auch wenn die Zahl der Verkehrstoten historisch niedrig ist, darf man nicht aufhören, nach neuen Wegen für mehr Sicherheit zu suchen. Gerade Schnellfahrer behaupten häufig, besonders gute Autofahrer zu sein – dabei ist es eher umgekehrt. Es muss etwas getan werden.

Nach meiner Ansicht zeichnen eine gute Autofahrt drei Aspekte aus:

  • Ich und meine Beifahrer kommen sicher und entspannt ans Ziel.
  • Andere Verkehrsteilnehmer fühlen sich durch meine Fahrweise nicht belästigt oder gar genötigt.
  • Durch meine Fahrweise verbrauche ich möglichst wenig Kraftstoff und schone das Fahrzeug.

Besonnen fahren: Wie kann das gehen?

Ich möchte ehrlich sein: Auch mir fehlt in manchen Situationen die Geduld und mit der Gelassenheit ist es auch nicht immer wirklich weit her. Und doch sei es mir erlaubt, die Forderung nach mehr Verkehrsmoral auf deutschen Straßen aufzustellen. Besonders das Befolgen des dritten Punkts hat bei mir dazu geführt, auch die ersten beiden Aspekte zielgerichteter umzusetzen.

In allen modernen Autos kann sich der Fahrer Informationen über den aktuellen sowie durchschnittlichen Kraftstoffverbrauch anzeigen lassen. Mit der individuellen Fahrweise können diese Werte stark beeinflusst werden. Wie viel Energie benötigt wird, um ein Auto auf Geschwindigkeit zu bringen und zu halten, zeigt ein Vergleich zum Radfahren: Der natürliche Feind des Radfahrers ist der Wind (bei gemütlicher Fahrt) beziehungsweise der Fahrtwind (bei sportlicher). Jeder kennt die damit verbundenen Kraftanstrengungen aus persönlicher, leidvoller Erfahrung. Die Übertragung auf das Auto – auch dieses ächzt bei zu hoher Belastung – hat mir geholfen, den Fuß vom Gaspedal zu nehmen.

Ein wenig Physik zum Nachdenken und Runterfahren

Bei Körpern, die sich durch das Medium Luft bewegen, steigt der Luftwiderstand proportional zum Quadrat der Geschwindigkeit. Aus dieser physikalischen Gesetzmäßigkeit folgt: Bereits bei einer Geschwindigkeitssteigerung von 80 auf 90 Kilometer pro Stunde erhöht sich der Luftwiderstand um mehr als ein Viertel. Da in dieser Temporegion der Luftwiderstand rund 50 Prozent des Gesamtwiderstands ausmacht (der Rest geht für die Rollreibung drauf), steigt der Spritverbrauch um über zehn Prozent. Egal, wie effizient ein Motor arbeitet.

Seitdem ich mir diese Rechnung vor Augen geführt habe, kann es vorkommen, dass ich in einer 100er-Zone kilometerweit mit 80 Stundenkilometer fahre – immer vorausgesetzt, ich stehe niemandem im Weg und kann ohne Probleme überholt werden. Dann freue ich mich, dass ich näherungsweise ein Viertel weniger Benzin verbrauche, als all die Gehetzten, die das Limit voll ausreizen. Und wenn ich konsequent zehn Prozent langsamer fahre, benötige ich bei meiner einstündigen Fahrt lediglich fünf Minuten mehr Zeit. Dabei schone ich die Umwelt, den Geldbeutel und vor allem meine Nerven. Das ist es mir wert – und die wichtige Erkenntnis lautet: Es gibt einen Weg zu mehr Verkehrsmoral.

Herausforderung: Versuchen Sie eine Woche lang, sich an alle Verkehrsregeln zu halten. Und reflektieren Sie anschließend, wie sich Ihr Blick auf die eigene Verkehrsmoral und die der anderen verändert.

Habe ich etwas Wichtiges vergessen oder falsch dargestellt?
Schreiben Sie mir unter info@gedanken-ohne-schranken.de

Letztes Update: November 2022